Kommentar: (Erschütternd) schöne neue Technik-Welt
Liest man dieser Tage einmal quer über die einschlägigen Apple News- und Gerüchteseiten, werden diese von einem Thema beherrscht, welches sich bei mir bislang noch nicht fand. Die Rede ist von dem neuen, seit heute auch in Deutschland erhältlichen Nintendo-Spiel "Pokémon Go" (kostenlos im AppStore). Was mit dem ersten Titel Miitomo noch nicht so recht gelungen ist, holt Nintendo nun nach - man hat die iOS- und Android-Welt im Sturm erobert. Der Börsenwert des Unternehmens stieg seit der Veröffentlichung des Titels um satte 9 Milliarden US-Dollar - beachtlich, wenn man bedenkt, dass das Spiel in der ersten Woche nur aus den AppStores in den USA, Australien und Neuseeland geladen werden kann. Deutschland und andere europäische Länder folgten wie gesagt erst in dieser Woche. Der langsame internationale Rollout wurde durch den unerwarteten Ansturm auf die im Hintergrund arbeitenden Server bedingt.
Was aber steckt hinter dem neuen App-Phänomen? Im Grunde handelt es sich dabei um eine Art Geocaching mit Virtual Augmented Reality Elementen. Und natürlich um Pokémon - diesen asiatischen Trend, der sich mir noch nie wirklich erschlossen hat. Diese drei Elemente haben nun die produzierenden Unternehmen Nintendo und Niantic zur heißesten App des Sommers verschmolzen. Man begibt sich mit dem iPhone in der Hand also in die augmentierte Realität und sucht in der Umgebung nach wilden Pokémon. Dabei orientiert man sich teilweise an der natürlichen Umgebung dieser kleinen Drachen-Tierchen, so dass Wasser-Pokémon beispielsweise in der Nähe von Seen und am Meer auftauchen. Hat man ein Pokémon entdeckt, kann man es fangen, indem man mit dem Touchscreen des Handys einen Pokéball wirft. Diese findet man unter anderem an POIs auf der ganzen Welt. Mit den eigenen gefangenen Pokémon kann man dann in sogenannten Gyms gegen die Pokémon anderer Spieler auf der ganzen Welt antreten. Haut euch beim Lesen nicht um? Mich auch nicht.
Das sehen allerdings eine ganze Menge Menschen auf der Welt mal ganz anders. Laut TechCrunch wurde das Spiel inzwischen über 7,5 Millionen Mal heruntergeladen und hat bereits genausoviele tägliche Nutzer wie Twitter in den USA. Knapp 2 Millionen US-Dollar Umsatz erwirtschaftet das Spiel inzwischen Tag für Tag. Den Analysten von Survey Monkey zufolge ist Pokémon GO bereits jetzt "The Biggest Mobile Game in U.S. History". Beeindruckend! Aber warum ist das so? Nun, bereits das klassische Geocaching konnte eine ganze Menge Fans gewinnen. Die neue Kombination mit der Augmented Reality und der Beliebtheit der Pokémon tut ihr übriges dazu. Vermutlich kommen aber auch noch eine gehörige Portion FoMO und Neugier hinzu. Hiergegen ist grundsätzlich natürlich erstmal überhaupt nichts einzuwenden. Allerdings treibt der Spaß inzwischen auch Blüten, die zumindest bei mir die Alarmglocken klingeln lassen.
So sind inzwischen erste Berichte aufgekommen, wonach sich in den USA bereits erste Verkehrsunfälle ereignet haben, weil die Nutzer auf der Suche nach Pokémon mehr auf ihr Smartphone-Display als auf die Straße geschaut haben. Plötzliche Lenkbewegungen und Bremsmanöver inbegriffen. Auch Fußgänger sollen inzwischen an Unfällen beteiligt gewesen sein, weil sie bei der Pokémon-Suche nicht mehr auf ihre Umgebung geachtet haben.
In Missouri, USA haben sich Gangster das Spiel zunutze gemacht, um Pokémon-Suchende mit vorgehaltener Waffe auszurauben, wie BusinessInsider auf Basis eines Facebook-Posts des örtlichen Police Departments berichtet. Demnach wurde ein sogenannter PokéStop auf einem abgelegenen Gelände angelegt, der Spieler anlockte, die dann dort ausgeraubt wurden. Einem Amerikaner aus Massachusetts ist hingegen ein anderer Umstand übel aufgestoßen. So wurde sein Haus innerhalb des Spiels als Gym deklariert, was dazu führte, dass sich zahlreiche Spieler an seiner Adresse versammelten, um ihre Pokémon gegeneinander antreten zu lassen. Auch das Jagen von Pokémon an Orten wie einer Holocaust-Gedenkstätte könnte man bestenfalls noch als "unpassend" einstufen. Und dann gibt es da auch noch die Story eines Teenagers aus Wyoming, die auf der Suche nach den Pokémon auf eine echte Wasserleiche stieß.
#Holocaust Museum to visitors: Please stop catching #Pokemon here #humans https://t.co/gqHcQzH3oY
— mark scullion (@mscullion) 12. Juli 2016
Zu guter Letzt kamen dann auch noch Meldungen auf, wonach das Spiel ein riesiges Datenschutzproblem beherbergt. So hat man zwar die Möglichkeit, sich über einen Pokemon.com Account zu authentifizieren, die meisten Spieler tun dies aber mit der alternativen Möglichkeit per Google Account. Wie Adam Reeve allerdings entdeckt hat, gewährt man hierüber dem Pokémon Go Entwickler Niantic den Komplettzugriff auf das Google-Konto, inkl. Gmail E-Mails, Google Drive Dokumenten, der Google Maps und Such-History oder auch Google Photos. Prinzipiell sind sämtliche Informationen mit dieser Berechtigungsstufe sogar veränderbar. Inzwischen hat Niantic bekannt gegeben, dass diese Rechte irrtümlich eingefordert wurden und die App lediglich auf die Basisinformationen wie den Google-Benutzername und die E-Mail Adresse zugreife. Andere Daten habe man weder ausgelesen noch gesammelt. Das Problem wurde inzwischen per Update behoben. Auf der anderen Seite hat sich auch Google zu Wort gemeldet und dabei verkündet, dass man die Zugriffsrechte der App bereits serverseitig eingeschränkt habe. Bedenken sollte man dabei allerdings, dass Niantic von dem ehemaligen Keyhole Gründer John Hanke 2010 als internes Startup bei Google gegründet wurde. Ende 2015 wurde dieses Startup dann ausgegliedert und von Google, zusammen mit der Pokémon Company und Nintendo mit einer Finanzspritze in Höhe von 30 Millionen US-Dollar bedacht. Die Schlüsse aus diesen Umständen darf sich nun jeder selbst ziehen.
Was aber hat all dies mit der Überschrift dieses Kommentars zu tun? Nun, Pokémon Go ist aus meiner Sicht ein Aushängeschild dessen, was heutzutage mit Technik möglich ist. Es kombiniert auf beeindruckende Art und Weise technische Möglichkeiten und erzeugt über geschicktes Marketing einen Hype, der auch Spieler anzieht, die bislang mit Pokémon herzlich wenig am Hut hatten. Ein Massen-Phänomen, welches die ganze Welt in einem Spiel zusammenführt. Und auch wenn man dieses Phänomen nicht versteht, ist der gesamte Hype objektiv betrachtet beeindruckend. Schöne neue Technik-Welt!
Auf der anderen Seite zeigen sich aber auch die erschütternden Auswüchse dieses Hypes. Menschen, die ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen, weil sie komplett in das Spiel und ihr Smartphone vertieft sind. Gangster, die sich die Geo-Location-Funktion des Spiels zu nutze machen, um arglose Spieler mit vorgehaltener Waffe auszurauben. Die (bewusste oder unbewusste) Bereitschaft, seine kompletten persönlichen Daten preiszugeben, nur um das Spiel spielen zu können. All dies sind Begleiterscheinungen, die auch ein Stück weit das widerspiegelt, welche Macht Smartphones und derartige Spiele inzwischen über die Menschen haben.
Nein, ich möchte die technischen Entwicklungen nicht verteufeln. Ich bin ein Kind des Internets, betreibe einen gut laufenden Technik-Blog, vertreibe Apps über den AppStore. Und dennoch betrachte ich Teile dieser Entwicklung mit großer Sorge. Nicht wegen der Entwicklung als solcher, sondern aufgrund der Maßlosigkeit und der fehlenden Bereitschaft sie zu Hinterfragen, mit der sie inzwischen angenommen wird. Selbstverständlich gibt Nintendo Warnungen aus, dass das Spiel nicht während der Teilnahme am Straßenverkehr genutzt werden soll und selbstverständlich gibt man auch zu Protokoll, dass man trotz der bestehenden Möglichkeit keine Daten der Nutzer ausgelesen habe. Was soll man auch anderes machen.
Vielmehr ist hier der Nutzer gefordert, auch mal das Gehirn einzuschalten und sich der Konsequenzen bewusst zu sein - sowohl was die potenzielle Unfallgefahr betrifft, als auch in Bezug auf den Umgang mit den eigenen Daten. Nicht Google ist schuld, weil sie die Daten sammeln. Vielmehr liegt die Schuld beim Nutzer, weil er die Daten zur Verfügung stellt. Das Zauberwort hier lautet "Medienkompetenz". Eine Kompetenz, die trotz nach wie vor steigender Digitalisierung offenbar immer mehr auf dem Rückzug ist.
Grundsätzlich ist Pokémon Go ein toller Ansatz mit einer aktiven sozialen Komponente. Die Suche nach den kleinen Drachen holt den Abenteurer in uns hervor und sorgt dafür, dass auch jüngere Spieler sich mal vom Sofa erheben, nach draußen gehen und dabei vielleicht auch mal spannende neue Plätze in der unmittelbaren Nähe des eigenen Wohnorts entdecken. Hiergegen ist grundsätzlich natürlich überhaupt nichts einzuwenden, so lange sich all dies in Maßen abspielt. Dann ist Pokémon Go nämlich in der Tat ein Aushängeschild der schönen, neuen Technik-Welt. Fehlen jedoch die angesprochene Medienkompetenz und das entsprechende Maß, ist es aber zugleich auch ein ziemlich erschütterndes Beispiel. Ich bin schon auf die Annahme des Spiels in Deutschland und den hiesigen Hype gespannt. Meine Leser kann ich an dieser Stelle nur dazu auffordern, sich an diesem Auswuchs der schönen neuen Technik-Welt zu erfreuen. Aber bitte immer unter Berücksichtigung der hoffentlich vorhandenen Medienkompetenz und mit der notwendigen Verantwortung. Fröhliches Pokémon-Jagen miteinander!
Kommentare
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Deinleser am :
Volkmar am :
WGS am :
Tommy1961 am :
WGS am :
sethyy am :
kamaflo am :
Die ganzen Arenen, deren Bilder und so stammen von den in ingress am h\344ufigsten frequentierten Portalen.
TreCool8992 am :
Eins muss ich aber anmerken, ist mir auch im letzten Bericht schon aufgefallen: Es sind keine Drachen-Tierchen! Zumindest die meisten nicht ????
Thomas am :
Kentaurus am :
Coxi am :